aussichten: Der weiße Berg
             
             
   
  
     
         
             
      DER WEISSE BERG      
             
 
 
Nein, auf den kann ich wirklich verzichten. Jeder andere, ja, aber nicht der. Schlange stehen ist meine Sache nicht, in erster Linie wegen jener, die unbedingt überholen müssen. Schon bei der Post kostet das Nerven, wieviel mehr dann an einem Grat in über viertausend Metern Höhe?

Denn das ist es, was man übereinstimmend von den sommerlichen Normalanstiegen auf den Mont Blanc hört: Menschenmassen statt kostbarer Bergeinsamkeit. Oft wird er zudem belächelt, der Normalweg auf den Monarchen, fast schon eine Wandertour, wie mancher so sagt.

Und doch, irgendwann ist es so weit: Einmal zu oft habe ich die weiße Gipfelkalotte aus dem Flugzeug stumm gegrüßt. Augen zu und durch, auf zum höchsten Berg der Alpen, eingebettet in noch immer riesige Gletscherströme, umrahmt von Felsnadeln aus Granit, wie es sie sonst nirgends in Europa gibt.

 

     
     

 

     
     

Nach viel Neuschnee ist der Zustieg von Osten wegen Lawinengefahr nur bedingt zu empfehlen, und auf der Westseite gibt es keinen Schlafplatz mehr in der Gôuterhütte. Also eine kurze, schlaflose Nacht weiter unten, auf etwa 3100 Metern. Aufbruch bald nach Mitternacht, durch die steinschlaggefährdete, felsige, seilversicherte Flanke der Aiguille de Gôuter. Unter den Absätzen der Schuhe tanzen die Lichter im schlafenden Tal. Als wir die Schulter erreichen, auf der der Weg in Richtung Gipfel verläuft, ist es noch immer dunkel. Nur eine zitternde Linie langsam aufsteigender Lichtpunkte zeigt in der Ferne an, wo jene sind, die weiter oben genächtigt haben.

Gegen fünf, im ersten blauen Dämmern, packt mich die Müdigkeit wie eine Welle. In dem unschwierigen Gelände überlasse ich mich ihr, und gehe für eine kurze Weile hinten am Seil mehr schlafend als wach. Dann ist es wieder vorbei.
Ein Morgen in 4300 Metern Höhe: Wir sind allein. Der Erdschatten im Westen, wo die Berge schnell abfallen zum Genfer See, und wo man in der Ferne unter dem morgendlichen Dunst fast schon den Atlantik ahnen möchte. Weiter geht es, zum Vallot-Biwak, wo in der frühen Sonne Muster aus Eisnadeln die Felsen schmücken. Der Gipfel sieht nah aus, und doch bleiben noch zwei Stunden: Hinauf auf den schmaler werdenden Bosses-Grat, wo uns die ersten im Abstieg begegnen. Aber das letzte Stück gehört uns allein, umspielt von leichten Wolken, die aus der Tiefe emporwachsen, Schritt für Schritt der gerundeten Gipfelkuppe zu. Und dann das Unglaubliche: Wir sind oben, und wir sind ganz für uns. Nach einer Weile schließt eine Zweierseilschaft auf. Mehr als eine halbe Stunde rasten wir, es ist nahezu windstill.

Bald tauchen wir vollständig ein in die Wolken, konturloses Weiß rundum, bis wir die felsige Flanke erreichen. 1700 Höhenmeter sind wir aufgestiegen, 2700 Höhenmeter geht es wieder hinunter bis zur Zahnradbahn. Kein Gipfel ist zu unterschätzen, und dieser ganz bestimmt nicht – auch nicht am Normalweg.

Tags darauf, kurz nach dem Start in Genf, zeigt er sich im letzten warmen Abendlicht, der weiße Berg. Man braucht ein bisschen Glück, so viel ist sicher. Aber dann – dann ist ein Besuch bei ihm ein wunderbares Erlebnis.