aussichten: Katastrophenjournalismus
             
             
   
  
     
         
             
     

KATASTROPHENJOURNALISMUS //

                           JOURNALISTISCHE KATASTROPHEN

     
             
 
 

Am 1. Juni 2009 stürzte ein mit mehr als zweihundert Menschen besetzter Airbus A330 der Air France aus bisher ungeklärten Umständen in den Südatlantik. Weit vor der Küste, jenseits von Radar- und ständigem Funkkontakt, geschah das Unglück, und was detaillierte Auskunft über die letzten Minuten des Fluges geben könnte - Flugschreiber und Audioaufzeichnung - liegt auf dem Meeresgrund und ist Gegenstand einer fieberhaften Suche.

Inzwischen wurden Wrackteile gefunden und mehrere Opfer. Ansonsten bleiben für die erste Analyse nur meteorologische Daten vom Unglückstag, die auf starke Gewittertätigkeit hindeuten, und per Satellit übermittelte automatische Signale von Fehlfunktionen kurz vor dem Absturz, die unterschiedliche Flugzeugsysteme betreffen. Und weil das traurige Geschehen über die unmittelbar Betroffenen hinaus viele Menschen beschäftigt, sucht man unter Hochdruck nach Antworten.

 

     
     

 

     
     

Leider ist Luftfahrt so wie die Welt überhaupt ja ziemlich kompliziert, und mehr noch als den Flugschreiber braucht eine Unfalluntersuchung vor allem eines: Zeit, und zwar mehrere Monate, manchmal auch Jahre. Das bringt die Medien in die schwierige Situation, das öffentliche Interesse zu bedienen, wo es am größten ist: in den Tagen und Wochen nach dem Unfall. Auch wenn zu dieser Zeit vielfach kaum gesicherte Fakten verfügbar sind und Angehörige und Kollegen der Opfer noch keine Gelegenheit gehabt haben, ihre Trauer annähernd zu bewältigen.

Die Versuchung ist groß, und viele Medien können ihr nicht widerstehen: Sie überschwemmen ihr Publikum mit hochspekulativen, emotionalen, an Tatsachen und Sachkenntnis armen Beiträgen. So schlachtet etwa eine Redakteurin im österreichischen Magazin NEWS (24/2009) ihren wenige Stunden späteren, eigenen Flug in der Unglücksnacht auf mutmaßlich ähnlicher Strecke zum turbulenten Horrorgewittererlebnis aus. Dessen Qualen begannen bereits mit Vorahnungen auf dem Zubringerflug und dauerten offensichtlich bis zur Landung in Europa an. Nur aufgrund des außergewöhnlichen Geschicks der Piloten der von ihr klugerweise gebuchten Airline ist sie in der Lage, uns noch mit ihrem Bericht erfreuen.

Hätte sie sich vor dessen Veröffentlichung Zeit für eine kleine Recherche genommen, dann wüsste sie, dass im Grunde jeder Flug von der Süd- auf die Nordhalbkugel durch eine potenziell gewitterreiche Zone führt. Viele Male am Tag und in der Nacht durchqueren unzählige Passagierflugzeuge dieses Band, die innertropische Konvergenzzone. Nicht nur zwischen Südamerika und Europa, auch auf dem Weg von Australien nach Fernost oder von Fernost nach Europa, von Europa nach Südafrika, zwischen Nord- und Südamerika oder über den Weiten des Pazifiks. Vorsichtig, den Gewittern ausweichend, aber ohne Probleme.

Sie können das sicher tun - und das gilt auch angesichts dieses tragischen Unfalls und seiner Ursachen - aufgrund der enormen Qualität der Flugzeuge, der hohen Sicherheitsstandards der Luftfahrtindustrie, der Investitionen renommierter Fluggesellschaften in Technik, Training und Ausbildung sowie der Gewissenhaftigkeit, Erfahrung und Sorgfalt der Besatzungen.

Einer Sorgfalt, wie man sie bei den journalistischen Katastrophen des Katastrophenjournalismus beständig vermisst. Und die aber, vor allem als Ausdruck des Respekts gegenüber den Opfern und ihren Angehörigen, so dringend nötig wäre.

 

     
     

Gewitterfront über Indien

     
     

 

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